Lo Man Kam Wing Chun in Germany

Sifu/Author:
Posted By : LoManKam
Date: Oct 27, 2012
Sie haben von Wing Chun noch nie etwas gehört? Hatte ich auch nicht. Jedenfalls nicht bis vor drei Jahren. Damals beschloss mein Sohn, diese asiatische Kampfkunst zu lernen. Mich hat das erst mal nicht groß interessiert. Aber als mir neulich eine Freundin erzählte, dass sie Wing Chun trainiert, und wenige Tage später auch noch die nette Nachbarin von ihrem Bruder, einem Wing-Chun-Trainer, besucht wurde – da wurde ich neugierig. Kann doch kein Zufall mehr sein, dachte ich und habe mich umgehend beim Lo Man Kam Wing Chun Kung Fu-Verein in Neu-Anspach für ein Probetraining angemeldet. Und hier stehe ich nun – in Jogginghose und T-Shirt, die alten Turnschuhe habe ich im Keller aus einer Kiste gekramt. Bevor es los geht, erfahre ich von Trainer Valentin Gress noch, was dieser elend lange Vereinsname bedeutet: Lo Man Kam, so heißt ein Neffe des letzten Wing-Chun-Großmeisters Yip Man. Der heute 75-Jährige wurde von seinem Onkel im Wing Chun unterrichtet und gibt seinerseits den mehr als 300 Jahre alten Kampfstil seit Jahrzehnten weiter. Weil Wing Chun einer von vielen Kung-Fu-Stilen ist, kommen die beiden Silben ebenfalls im Vereinsnamen vor. Dieses Rätsel wäre also gelöst. Mein Coach legt eine Musik-CD ein, das Training beginnt. Ich bin nicht die einzige, die heute trainiert, wir sind zu acht. Die zwölfjährige Laura ist außer mir das einzige weibliche Wesen. Sie hat als Grundschülerin in der Neu-Anspacher Wing-Chun-Kindergruppe angefangen und gehört jetzt schon zu den Fortgeschrittenen, das kann man an ihrer grünen Schärpe erkennen. Anfänger bekommen nach der ersten bestandenen Prüfung einen orangenen Gürtel. Die Wing-Chun-Schüler stellen sich jetzt breitbeinig in der Raummitte auf. Es wird still und konzentriert geübt, jeder in seinem Tempo, jeder ganz für sich. Die Männer und das Mädchen heben und senken ihre Arme, üben Fauststöße gegen einen imaginären Gegner, spreizen die Finger, drehen die Hände im Handgelenk. Lernen vom "großen Bruder" Gress zeigt mir zunächst den Übungsstand – die Ausgangsposition beim Wing-Chun-Training. Die Füße stehen etwas weiter als hüftbreit auseinander, die Fersen leicht nach außen gedreht, die Knie locker und gebeugt, das Becken etwas nach vorne gekippt, so dass kein Hohlkreuz entsteht. "So steht man sehr stabil", erklärt Gress. Ich fühle mich eher unbeholfen – aber ich bin in guten Händen: Im Wing Chun trägt mein Trainer den Titel "Sihing", das heißt frei übersetzt "großer Bruder" und steht für einen Ausbildungslevel, mit dem Schüler unterrichtet werden dürfen. Was Valentin Gress weitergibt, hat er unter anderem von Sifu Marc Debus, dem Leiter der Neu-Anspacher Schule, gelernt. Sifu? Das ist der väterliche Lehrer, also der Meister. Debus, im Hauptberuf Förderschullehrer an der Helmut-von-Bracken-Schule in Friedberg, war gerade in Taiwan auf einer Wing-Chun-Fortbildung bei Lo Man Kam (siehe NACHGEFRAGT). Genug der Theorie, jetzt wird’s praktisch. Der Sihing zeigt mir die erste Übung, die Handtechnik Siu Lim Tao. Übersetzt heißt das "Die kleine Idee". Sie enthält wichtige Basistechniken. Ich mache nach, was mir Wing-Shun-Trainer Gress vormacht, strecke die Arme aus, kreuze den linken über den rechten und lasse beide vor meinem Körper sinken. Dann hebe ich die Arme wieder an und bringe die gekreuzten Hände auf Augenhöhe. Die Handflächen zeigen dabei nach innen. Ich balle die Hände zu Fäusten und ziehe sie in einer fließenden Bewegung an den Oberkörper auf Brusthöhe. Gar nicht so einfach, ich muss mich sehr konzentrieren, damit ich alles richtig mache. Bei einer korrekten Ausführung kommt es auf jedes Detail an. Etwa wie tief die Arme vor den Körper sinken, wie hoch ich sie hebe und an welcher Stelle am Arm die Handgelenke kreuzen. Es gehe immer darum, die Körpermitte zu schützen und dabei die Gesetze der Physik zu berücksichtigen, um sich nicht zu verletzen, erklärt mir Gress. So ist beispielsweise das empfindliche Daumengelenk am besten geschützt, wenn der Daumen seitlich an der Faust anliegt. Das Handgelenk soll beim Fauststoß immer gerade sein. So entfaltet der Schlag die größte Kraft, gleichzeitig knickt die Hand im Gelenk nicht ab. Klingt logisch und sinnvoll. Doch mir schwirrt schon so langsam der Kopf. Dabei übe ich nur den 1. Satz der 1. Form, die aus insgesamt acht Bewegungen besteht. Alles in allem gibt es sechs Formen, das sind vereinfacht gesagt Stufen. Die ersten drei sind Handformen. Um sie zu lernen, braucht ein Schüler etwa fünf Jahre. Ganz schön lange. Erst danach kommt der Kampf an der Holzpuppe und später der mit Langstock und Doppelmesser. Bei Valentin Gress, der mir die richtige Ausführung der ersten Handtechnik wieder und wieder zeigt, sieht die Bewegung leicht, kraftvoll und fließend aus. "Auf solchen einfachen, aber sehr effektiven Bewegungen basiert Wing Chun", erklärt er. Es gebe keine komplizierte Akrobatik und keine hohen Tritte. Der Angriff des Gegners werde mit Schritttechniken, insbesondere aber mit Armbewegungen abgewehrt und die Kraft des Angriffs in einen Gegenangriff umgelenkt. "Wenn die Füße zum Einsatz kommen, zielen sie aufs sensible Knie- oder Hüftgelenk." Wing Chun kann fast jeder in jedem Alter lernen, sagt er. Es schult Koordination, Konzentration, Disziplin und Schnelligkeit. Wing-Chun-Schulleiter Marc Debus unterrichtet die Kampfkunst auch an Schulen – unter anderem als Gewaltprävention und um das Selbstbewusstsein der Schüler zu stärken. Von einer Nonne erfunden "Alles was nicht direkt zum Ziel führt, ist nutzlos und unnötig", bringt Gress diesen minimalistischen Kampfstil auf den Punkt. Das finde ich sehr sympathisch und staune ein wenig, als ich erfahre, dass Wing Chun von einer Frau entwickelt wurde. Der Legende nach wollte eine Nonne aus einem Shaolin-Kloster einen Kampfstil erfinden, der es auch körperlich Schwächeren ermöglicht, Angriffe abzuwehren. Es heißt, der Kampf zwischen einem Kranich und einem Fuchs (oder einer Schlange je nach Überlieferung) habe sie inspiriert. Der Kranich wandte dem Angreifer immer die Brust zu und schützte somit die empfindlichen Flanken. Er parierte die schnellen und kraftvollen Angriffe des Gegners mit Technik statt mit Muskeln. Der Vogel wehrte die Attacken mit einer Schwinge ab und griff den Gegner gleichzeitig mit seinem langen Schnabel an. Eine Ahnung davon, wie das funktionieren soll, bekomme ich im Nahkampf. Gress teilt mir als Partner den 26-jährigen Eugen zu. Der junge Mann ist zwar nicht viel größer als ich, aber durchtrainiert und rund zwei Jahrzehnte jünger. Ich schaue mich um, drüben trainiert Laura mit einem bestimmt vier Köpfe größeren Mann. So gesehen habe ich es noch gut getroffen. Eugen legt jetzt seine Hände um meinen Hals, er simuliert einen Würge-Angriff. Mit zwei einfachen Griffen bin ich die Hände los, mit einer weiteren Handtechnik lege ich meinen Übungspartner auf die Matte. Gar nicht zimperlich Diese zwei Griffe hat mir Gress zuvor beigebracht. Er zeigt mir gleich noch vier weitere Techniken, mit denen ich mich in der gleichen Situation verteidigen kann. Bei einer ist der Gegner schon nach einem festen Griff mit zwei Fingern in die Kuhle am Schlüsselbein Schachmatt. Ein anderer ist richtig fies: Ich packe eine Hand und verdrehe den Arm. Das tut bestimmt höllisch weh im Schultergelenk. Zimperlich war die Nonne jedenfalls nicht. Gemein ist auch der Tritt auf Eugens Kniegelenk. Er bricht vor mir auf der Matte zusammen. Natürlich geht das alles bei mir noch langsam vor sich. Ich muss vor jedem Griff nachdenken. Und klar – das ist keine reale Bedrohungssituation. Um wirklich gut und sicher zu werden, müsste ich üben, üben und noch mehr üben. Am Ende der Stunde weiß ich aber: Mit der richtigen Technik lege ich auch starke Männer flach NACHGEFRAGT Große Familie [Freunde: Marc Debus (li.) mit seinem Lehrer Lo Man Kam.] Freunde: Marc Debus (li.) mit seinem Lehrer Lo Man Kam.Marc Debus, Schulleiter der Neu-Anspacher Wing Chun-Schule, war erst kürzlich wieder in Taiwan, wo er bei seinem Lehrer Lo Man Kam Unterricht nahm. Im Interview erklärt er, wie die enge Verbindung zustande kam und was der Kontakt für ihn bedeutet. Herr Debus, seit wann kennen sie Lo Man Kam? DEBUS: Ich bin seit 1996 jedes Jahr in seiner Schule in der Republic of China, genauer in Taiwan, um bei ihm Wing Chun zu lernen. Wie lange dauern diese Aufenthalte? DEBUS: Meistens um die drei Wochen, manchmal länger, auch mal nur zwei Wochen. Ich trainiere dann täglich sechs bis acht Stunden. Neben der Schreibweise Wing Chun findet man noch viele andere, etwa Wing Tsun, Wing Shun oder Ving Chun. Jeder Stil reklamiert für sich, der beste zu sein. Was zeichnet das Wing Chun von Lo Man Kam aus? DEBUS: Lo Man Kam ist sehr lange in der Schule seines Onkels gewesen und hat den Stil komplett erlernt. Er legt viel Wert auf die Art und Weise der Vermittlung und betont immer wieder, dass einige wenige Schüler von Yip Man auch die Didaktik des Lehrens beigebracht bekommen haben. Diese Didaktik, also die Vorgehensweise beim Erlernen des Stils, hat er auch an uns als Trainer weitergegeben. Da ich persönlich zehn Yip-Man-Schüler durch meinen Sifu kennenlernen konnte, habe ich gesehen, dass dies der traditionelle Weg des Unterrichtens ist. Diesem Weg folgt auch die German Association von Lo Man Kam. Ein berühmter Schüler war übrigens Bruce Lee. Lo Man Kam besucht Wing-Chun-Schulen in Deutschland jedes Jahr. Schaut er auch bei Ihnen vorbei? DEBUS: Er hat schon oft bei mir gelebt, um mich privat zu unterrichten. Vor fünf Jahren wurden ich und zwei deutsche Trainingskollegen sogar als erste Ausländer in traditioneller Weise in den inneren Kreis der Kung-Fu-Gemeinde aufgenommen. Was war das für eine Zeremonie? DEBUS: Während der Teezeremonie Bai Si Lai nimmt der Meister in gegenseitiger Loyalität seine Schüler als Söhne an. Ich trainiere seit 2005 auch jedes Jahr mit Lo Man Kams Sohn in Virginia Beach in Amerika für zwei Wochen. Dort wohnt auch die Tochter des Sifu mit ihrer Familie. Ich werde behandelt wie jedes andere Familienmitglied, bin zu Hochzeiten und Taufen eingeladen und jederzeit willkommen. Man kann sagen, dass die Familie Lo mich adoptiert hat.